Gefühlsmikado. Andrea Funk inszeniert mit THEATER_PERLACH „der krank Eingebildete, frei nach Molière

Nicht überall wo Molière draufsteht ist welcher drin. Hier allerdings schon, und er rockt! Andrea Funk und ihr Ensemble haben sich die grandiose Komödie „Der Eingebildete Kranke“ vorgenommen und einen wunderbaren, mal schwebenden, mal trampelnden, mal deklamierenden, und jederzeit sehens- und hörenswerten Abend draus gemacht.

Schwer zu finden, das MUCCA31, aber wenn man mal drin ist, ist man gefangen von der Atmosphäre dieser etwas angeranzten aber charmanten Industriehalle. Das THEATER_PERLACH ist hier eingefallen und hat nur ein paar, allerdings exquisite, Möbel mitgebracht, beleuchtet wird mit Bordmitteln, die manchmal etwas flackrig ausfallen, aber immerhin nah am zu Molière’s Zeiten üblichen Rampenlicht. Drei Bühnen haben sie zusammengezimmert, ein Klavier dazu (sensationell: Dominik Preuß), daneben ein Waldhorn (romantische Halalis: Alina Jell) und los geht’s: Argan ist hier ein Bürschle, sehr differenziert in dieser Riesen-Rolle: Tim Schuhmacher. Er ist jedenfalls an allen Ecken so krank wie das Original, und spielt den Hausherrn dem die Fäden längst entglitten sind (er ist es nicht, seine Eltern leben noch und gehen auf Java Geschäften nach). Die freche Zofe Toinette setzt ihm arg zu (in Doppelrolle: Marie Höhne – sie tanzt auch die zentralen, ergreifenden Choreographien mit den vielen rohen Stöcken, die aus dem Tarot entlehnt scheinen – erdrückende Möglichkeiten). Angélique ist hier Argans jüngere Schwester, die Stück für Stück in ihren Weltschmerz hinuntersinkt (sie fällt öfters in Ohnmacht die Arme) – im Laufe des Abends wird sie zur Hauptfigur, das ist nicht Molière, gibt aber der Komödie die nötige Fallhöhe – und Katharina Müller ist eine Wucht in ihrer Rolle. Weiter geht’s mit den Auftritten von Argan’s Rettern, wir wissen: sie wollen alle nur sein Geld, geben sich aber echt Mühe: Elegisch und beschwörend, großartig frech im Geschäft: Lena Nathalie Halve als Heilerin Selene Und dann noch die Männer: Tim Dzianowski als Bente – auch nicht unbedingt Molière – er spielt den Freigeist, den Narren der schönen Gestalt, den Verführer aus Eigennutz mit Verve und einnehmender Offenheit. Last but not least Lucas Näther, er gibt den Entertainer und Medikamentenhändler, der jedem seine Rettung anpreist und die Pillen dann selber nimmt. Währenddessen geht das ganze Haus wohl langsam unter, denn des Öfteren tauchen Gestalten in Regenmänteln auf (Chor) sowie eine Handwerkerin im roten Overall, die den Sicherungskasten sucht. Im Keller steht Wasser, aber was hat das mit Weltschmerz und deklamatorischen Agit-Prop Diskussionen zu tun? Das ist absurd wie bei Ionesco und doch rührend (in Doppelrolle: Aleksandra Jovic, sie singt auch fantastisch den Cold Song von Henry Purcell, das Todesmotiv in Ariane Mnouchkine’s „Molière“).

Was ist das nun für ein Abend? Eine Komödie? Eine Revue? Ein Reigen? Die jungen Darsteller haben ja alle mitgewirkt am Text, es sind ihre eigenen Erlebnisse oder die von engen Freunden hier eingeflossen. Andrea Funk inszeniert die Sache mit einer wellenartigen Dramaturgie: den Anfang macht eine stumme, anrührende Tanzsequenz, dann scheint die Komödie von Molière zu beginnen, aber schon nach der ersten Szene, aufgepeppt mit biografischen Details der Geschwister, bewegt sich der Text weg vom Original und ist ganz im hier und jetzt: es geht um Schulrealitäten, Suchterfahrungen, Performance-Wahn, Selbstoptimierung und die Welt an sich. Funk hält die Handlung an manchen Stellen an, schwebende, traumartige Sequenzen, um dann schwungvoll wieder neu anzusetzen. Die musikalische Begleitung schafft magische Atmosphäre, sei es das Waldhorn das in dieser Halle wunderbar klingt, die verschiedenen Chöre (man hört James Brown durch, Yung Hurn und Elton John) und vor allem das Klavier: da ist viel romantisches rauszuhören (Liszt, Beethoven), aber eben auch der barocke Purcell. Und viel Preuß (von dem wir mehr hören wollen).

Ein politisches Musical ist hier zu sehen. Wilder Applaus. Unbedingt anschauen, This is Molière as good as it gets.

Uraufführung 12. September 2023, MUCCA, München; weitere Vorstellungen am 23. und 14. September 2023, sowie im Jugendcafé Hochäckerstraße am 23. und 24. September 2023

Über carlansberg

Studied theatre science, philosophy and german literature in Germany, produced theatre and dance since 1984, led theatre in Germany, led gallery in the US, continued exhibiting and networking until today (worked in the industry to sustain).
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